Gute alte Eisenbahn

Was erklärt der Herr wohl der Dame, die reisefein auf dem Bahnsteig stehen? Dass die Triebräder tatsächlich größer sind als er, nämlich 2 Meter? Dass die Schnellzuglok nachher mit 140 km/h auf die Strecke gehen wird? Dass der Heizer in den nächsten Stunden 10 Tonnen Kohle vom Tender in die Feuerung schaufeln wird – dass 38 cbm Wasser die Kraft für die 1800 PS starke Maschine liefern werden? Sie waren stählerne Kraftwerke, die Loks, In meiner Kindheit Inbegriff des Reisens und der Güterbeförderung

Ohne Computerhilfe konstruiert und gebaut: Das Triebwerk einer 2C1-Schnellzuglokomotive

Lokomotivführer, das war ein erwünschter Traumberuf für uns Jungs, hoch über den Reisenden, den Blick in die Ferne und auf die Signale gerichtet, verkörperte Verantwortung für die Maschine, die Hunderte von Fahrgästen, bei Tag und Nacht, den Dampfdruck regulierend, die Hand auf dem Bremsventil, egal, ob es regnete oder stürmte, der Abdampf die Sicht behinderte, umtost vom Zischen und Röhren in Leitungen und Feuerbuchse, dem Dröhnen der Triebwerke und Schienenstöße, im Zugwind, den Blick auf die Diensttaschenuhr, pünktlich, pünktlich!

Traumberuf Lokführer – Herr über ein 1800-PS-Kraftwerk

Eisenbahner – Männer aus Stahl, der Rangierer mit der Signalpfeife, im Verschub Weichenstellungen voraus prüfend, den Lokführer dirigierend, schwere Kupplungsbügel über Zughaken stemmend, die Spannspindel anziehend, mit Stellwerk und Lok ohne Funkverbindung, eigenverantwortlich, Teil des ganzen bewunderten Bahnreichs und nur einer von ihnen, so wie die Streckenläufer, die täglich viele Kilometer zu Fuß von Schwelle zu Schwelle gehend, etwa gelockerte Schienenbefestigungen nachziehen mussten oder die Bahnwärter an den Schranken, jeder an seinem Platz, jeder mit ein wenig Stolz auf seine Pflichterfüllung.

Und wir, die Reisenden, ob Kurz- ob Fern-, wir machten uns keine Gedanken, verließen uns zu Recht auf die Bahn, kamen pünktlich von A nach B und fragten nicht nach Bequemlichkeit, hielten die schwer zu öffnenden oder zu schließenden Türen für ebenso selbstverständlich wie die leicht geschwungenen Holzbänke in den Abteilen, die leicht geöffneten Fenster an heißen Tagen und den höllischen Fahrtwind, der dann durch das Abteil fegte. Natürlich passten wir auf, wann wir auszusteigen hatten und auf welcher Seite. Emailschilder an den Türen mahnten „Tür erst öffnen, wenn der Zug hält“ oder „die Benutzung des Aborts beim Halten auf Stationen verboten“, denn Wasserspülung war zwar da, aber der Blick in den sich gleichzeitig öffnenden Abfluss des Toilettenbeckens zeigte, darunter verlief das Gleis.

Gewiss, Züge fuhren seltener, eigene Unpünktlichkeit war darum sehr ärgerlich. Die Fahrzeiten, auch die Aufenthalte auf den Stationen, dauerten länger, dafür klappten die Anschlüsse. Oft mussten wir gar nicht umsteigen, Fernzüge führten sogenannte Kurswagen, die von dem einen in den anderen Zug umgestellt wurden. Und wenn einmal ein Zug verspätet war, warteten wichtige Anschlusszüge eben, so einmal erlebt, als wir mit unseren kleinen Töchtern von Hamm nach München ein Schlafwagenabteil gebucht hatten. In Bielefeld kam der Zug nach Hamm zwanzig Minuten zu spät. Wir informierten den Schaffner. Der Nachtzug in Hamm wartete auf uns, auf die Bahn ist doch Verlass, fanden wir.

Männer aus Stahl, der Rangierer

Wettrennen zwischen Berliner S-Bahn und einem D-Zug auf der Stadtbahnstrecke. Da stand ich am S-Bahn-Fenster und studierte die Wagenlaufschilder an den langsam vorbeiziehenden D-Zug-Wagen. „Breslau-Prag-Wien FranzJosefBf“ stand da oder „Hannover-Essen-Köln“, manchmal sogar in Klammern dahinter (Paris) oder (London). Dann hielt die blöde S-Bahn schon wieder und die Traumziele rauschten vorbei, zu schnell, um sie zu lesen, denn der D-Zug hielt nicht überall. Dass ich alle diese Städte ein Menschenalter später besuchen würde, unvorstellbar.

S-Bahn und Fernzug auf der Berliner Stadtbahn

Wenn es 1936 wirklich einmal sehr schnell gehen musste, zum Beispiel von Münster zu einer Mittagbesprechung in Berlin, eine kurze Konferenz danach, eine Tasse Kaffee, noch am selben Tag wieder zurück, dann, kaum zu glauben, wurde die Bahn sehr schnell. Um 7:35 ab Münster, in Hamm umsteigen in den „Fliegenden Kölner“ und in Berlin um 12:10 ankommen. Abends um 19:22 ab Berlin, noch vor Mitternacht, 23:18 wieder zu Hause. Und 2020? 7:34 ab Münster und 11:05 in Berlin, zurück um 19:49, in Münster 23:29. Freilich, das klappte seinerzeit nur einmal täglich, der „ICE““ von 1936 hatte nur 140 Sitzplätze, die schnell ausgebucht waren, und führte nur die 2.Klasse. Was heißt „nur“? es entsprach den Bedürfnissen jener Zeit und war technisch „Spitze“, nicht wahr   ?

ICE vor 85 Jahren: der „Fliegende Kölner“

Die gute alte Eisenbahn und ihre Menschen wuchsen über sich hinaus, als es galt, nach dem Krieg auf maroden Strecken mit den wenigen Loks, die der Krieg übrig gelassen hatte, manchen schrottreifen Waggons aus Kaisers Zeiten, so etwas wie einen (den einzigen möglichen) Verkehr aufrecht zu erhalten. Selbst auf den Trittbrettern standen wir, uns krampfhaft festhaltend, irgendwie glücklich, wenn der Zug sich überhaupt in Bewegung setzte, einmal holte mich (16) eine energische Schaffnerin vom Dach eines Wagens, andere blieben oben und legten sich hin, wenn eine Brücke über die Gleise  kam- der Lokführer pfiff vorher immer kurz, damit wir uns in Sicherheit bringen konnten. Damals war Bahn für uns gleich Lebensversicherung, wir fuhren zum Hamstern aufs Land, um nicht zu verhungern.

Nachkriegszeit, Glück im Unglück, die Bahn fährt!

Die Zeiten besserten sich. Mit meiner Freundin wanderte ich am 1.Mai 1953 durch den Teuto. Zurück natürlich mit der Bahn, natürlich mit Dampf. Und dann? Dann fuhren wir in den Urlaub nach Immenstadt, natürlich mit dem Zug, diesmal die nun Verlobte am Fenster eines frisch überholten D-Zug-Wagens. Erst 1968 verabschiedeten wir uns von der letzten planmäßig verkehrenden Schnellzug-Dampflok, die bis dahin in Hamm die Schnellzüge aus dem Ruhrgebiet von der elektrischen in die Dampftraktion in Richtung Hannover übernommen hatte. Traurig betrachteten viele Reisende die letzten Umkuppelungen am Hammer Bahnsteig. Nun war es nicht mehr die gute „alte“ Eisenbahn.

Rückkehr von einer Tageswanderung Personenzug nach Hamm fährt ein

Manchmal könnt ihr sie noch finden, Museumsbahnen verkehren hier und dort unter Dampf. So auch eine Strecke von Hamm nach Lipporg. Meine Frau (immer noch dieselbe, die 1953 mit mir wanderte) schenkte mir zum 65. Geburtstag eine Mitfahrt auf dem Führerstand einer kleinen tüchtigen Dampflok. Bisweilen erinnern vergessene alte Verkehrsschilder vor unbeschrankten Bahnübergängen an sie, die „gute….“. Und nun? Eine ganz und gar neue Bahn, entstaatlicht, sehr schnell, eng getaktet, bequem und klimatisiert. Empfindlich geworden gegen kleine Störungen, Sturm, Gewitter und Herbstlaub, immer noch Bahn, immer noch „Rückgrat des Verkehrs“, oft geschmäht, unverzichtbar.

Wunsch erfüllt: mit 65 auf der Museumslok
Vergessenes altes Warnschild

Volker Hentig

ist 90 Jahre alt und wohnt mit seiner Frau in Bielefeld. Beruflich war er Unternehmer. 

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